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Das Porträt: Die passende Formel für verständliche Kommunikation

Eine junge Chemikerin startet ein Experiment und spricht im Internet über Wissenschaft. Ein paar Jahre später ist Dr. Mai Thi Nguyen-Kim eine der zentralen Stimmen der Wissenschaftsvermittlung in der Öffentlichkeit.

Es gibt diese Tage, da sehnt sich Mai Thi Nguyen-Kim nach der geordneten Ruhe eines Labors. Wenn nach einem pointierten Beitrag über die Chancen grüner Gentechnik der Sturm der Entrüstung aufgebrachter Dogmatiker durch die sozialen Netzwerke tobt, dann denkt sie an die Arbeit im weißen Kittel, die Handschuhe, die Pipetten und Kolben. Dann würde sie gerne einfach nur destillieren. Aber Dr. Mai Thi Nguyen-Kim stellt sich doch immer wieder in diesen Sturm. Weil sie über Wissenschaft spricht – im Internet auf ihrem YouTube-Kanal und im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Mit Formaten und Sendungen wie ihrem „maiLab“, „Terra X“ und nun „MAITHINK X – die Show“ steht sie für moderne, mitreißende und überzeugende Wissenschaftskommunikation. Dafür wird sie am Samstag, 3. September, um 19.00 Uhr im Krönungssaal des Rathauses mit dem Aachener Ingenieurpreis ausgezeichnet. Bereits am Nachmittag spricht sie beim großen Graduiertenfest der RWTH Aachen vor den Absolventinnen und Absolventen.

Die 34-jährige Nguyen-Kim folgt damit auf den Technologiepionier Sebastian Thrun und den schwäbischen Familienunternehmer Hans Peter Stihl. Weitere Preisträger waren Berthold Leibinger (gestorben 2018), der aus der kleinen schwäbischen Maschinenfabrik Trumpf einen High-Tech-Konzern der Lasertechnologie machte, Franz F. Pischinger, der als RWTH-Professor die FEV Motorentechnik GmbH als Spin-off in Aachen gründete, der Astronaut Thomas Reiter, der langjährige Direktor am Werkzeugmaschinenlabor WZL der RWTH, Professor Manfred Weck sowie die Mikrobiologin Professorin Emmanuelle Charpentier, deren Entdeckung CRISPR-Cas9 die Welt der Biotechnologie grundlegend veränderte und mittlerweile mit dem Nobelpreis der Chemie gewürdigt wurde. Die gemeinschaftliche Auszeichnung von Stadt und RWTH Aachen wird unterstützt durch den Verein Deutscher Ingenieure VDI. Er stiftet die Skulptur „Kreuzende Ellipsen“ der Künstlerin Mariana Castillo Deball, die Nguyen-Kim im Rahmen des festlichen Aktes im Aachener Rathaus verliehen wird.

Wissenschaftskommunikation auf „ein anderes Level gehoben“

Alle Preisträgerinnen und Preisträger stehen dabei für gesellschaftliche, technische und wirtschaftliche Impulse sowie die Gabe, jüngere Generationen zu inspirieren. „Dr. Mai Thi Nguyen-Kim hat die Wissenschaftskommunikation in den vergangenen Jahren auf ein anderes Level gehoben und damit eine einmalige kommunikative Brücke gebaut, um wissenschaftliche Themen sowohl der Politik als auch der breiten Gesellschaft verständlich darzulegen. Als promovierte Chemikerin mit Bezug zur RWTH Aachen nimmt sie eine besondere und deutliche Vorbildfunktion für die Studierenden der RWTH ein“, begründet Professor Ulrich Rüdiger, Rektor der RWTH Aachen, die Entscheidung. „Vor allem in Zeiten der Corona-Pandemie ist oftmals deutlich geworden, dass eine Fokussierung auf die verständliche Aufbereitung von wissenschaftlichen Inhalten notwendig ist, um den Dialog und den Austausch und damit auch das Verständnis füreinander aufrecht zu erhalten“, sagt Aachens Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen.

Doch der Reihe nach. Mai Thi Nguyen-Kim ist in Heppenheim geboren. Ihre Eltern kamen aus Vietnam, der Vater arbeitete als Chemiker bei BASF. In der Familie stimmte also die Chemie zu den Naturwissenschaften. Nach dem Abitur studierte auch die Tochter Chemie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und arbeitete im Rahmen eines Forschungsaufenthalts am Massachusetts Institute of Technology in den USA. 2012 kam sie dann nach Aachen und an die RWTH, begann dort ihre Promotion am DWI Leibniz-Institut für interaktive Materialien. Sie verbrachte ein Forschungsjahr in Harvard und am Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung, promovierte schließlich an der Universität Potsdam mit einer Arbeit über Physikalische Hydrogele auf Polyurethan-Basis.

Diese Promotion war noch ein ferner, kühner Gedanke, da entwickelte Mai Thi Nguyen-Kim bereits diese Begeisterung für die Kommunikation von wissenschaftlichen Inhalten. Eine junge Studentin, voller Energie, fröhlich wie rasant vortragend, erprobte sich zunächst bei Science Slams und ähnlichen Formaten. Einer ihrer frühen Auftritte an der RWTH (2013) ist bis heute eines der meistgeklickten YouTube-Videos der Hochschule. Von der Bühne verlagerte sie ihre Auftritte ins Internet, produzierte erste Videos, die zunehmend professioneller wurden. 2015 startete dann ihr YouTube-Kanal „The Secret Life of Scientists“, der bewusst mit Stereotypen über Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler brach. 2016 folgte „schönschlau“, der 2018 dann in „maiLab“ umbenannt wurde. „maiLab“ hat mittlerweile 1,4 Millionen Abonnenten. Schnell war klar: Sie trifft den Ton einer ganzen Generation. „Bei ihr macht’s Klick“ war ein Portrait in ZEIT Campus 2019 überschrieben.

Mit naiven Vorstellungen ist sie gestartet

Das Fernsehen war für die junge Chemikerin, die ihre Zuschauer so gerne als „Freunde der Sonne“ begrüßt, der nächste logische Schritt. Mit Ranga Yogeshwar (bis November 2018), für sie eine Art früher Mentor, und Ralph Caspers moderierte sie „Quarks“. Bevor sie von Quarks zum Team von Terra X gewechselt ist, war sie auf Harald Leschs YouTube-Kanal aktiv. . Sie schrieb ein erstes Buch, „Komisch alles chemisch“ und landete weit oben – auf Platz 2 – der Bestsellerlisten. Sie schrieb ein zweites Buch „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ und war binnen einer Woche auf Platz eins.

Wenn Mai Thi Nguyen-Kim heute daran denkt, wie alles angefangen hat, dann sagt sie: „Ich hatte wie so viele andere eine naive Vorstellung, dass man über naturwissenschaftliche Sachverhalte nicht streiten kann. Dass Wissenschaft weder politisch ist noch kritisch gesehen werden kann. Diese Vorstellung habe ich schnell abgelegt.“ Mit ihrer klaren Art erreichte sie nicht nur offene Ohren. „Der Ansatz ‚Alles, was Du brauchst, sind gute Argumente‘ reicht nicht mehr aus,“ sagt sie.

Es wird vor dem Hintergrund der Klimakrise und dann der COVID-19-Pandemie so viel über Wissenschaft kommuniziert wie wahrscheinlich nie zuvor. Aber es werden auch bewusst Zweifel gesät an dem, was Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermitteln. Mai Thi Nguyen-Kim hat sich im Zuge der Pandemie mehr als einmal den Verschwörungstheoretikerinnen und Verschwörungstheoretiker gestellt. Sie hat in den „Tagesthemen“ kommentiert und wurde von der zu dieser Zeit amtierenden Bundeskanzlerin Angela Merkel öffentlich für die verständliche Darstellung gelobt. Ein YouTube-Video zu Corona wurde 6,6 Millionen mal angeschaut und 50.000-mal kommentiert. Sie wurden mit Anerkennung und Preisen (etwa dem Grimme-Preis und dem Nannen-Preis) geehrt und sogar mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Gleichzeitig füllten Verschwörungstheoretiker ihr digitales Postfach mit üblen Schmähungen. Ihre Energie und ihr Mut, über Wissenschaft zu sprechen, ist dennoch ungebrochen.

Mit Carolin Kebekus im Fitnessstudio

Mai Thi Nguyen-Kims Anspruch blieb: empathisch bleiben. Im Zweifel für die Unwissenden. Doch das wurde und wird immer schwieriger. Dennoch bleibt sie präsent. Nein, sie ist sogar präsenter denn je: Mit ihren neuen Produktion für ZDFneo „MAITHINK X – die Show“ hat sie ein in dieser Konsequenz neuartiges Format entwickelt, um über Wissenschaft zu sprechen. „MAITHINK X“ ist eine Unterhaltungsshow, die sperrig wirkende Themen wie Gentechnik und die Kritik an den Entfaltungsmöglichkeiten für Wissenschaftlerinnen an den Universitäten („Ich bin Hanna“) in eine geradezu poppige Darstellung transformiert. Sie hüpft als Super Mario durch eine Promotionszeit, lässt Tatort-Kommissarin Jasna Fritzi Bauer ein Abflussrohr reinigen und Comedian Carolin Kebekus im Fitnessstudio Pizza bestellen. Die hohe Kunst dabei: Was in „MAITHINK X“ vermittelt wird, wird dadurch keineswegs banal oder albern, es bleibt relevant und stimmt am Ende nachdenklich.

Natürlich polarisieren diese Sendungen durch ihre offensiven Darstellungen. Aber muss es nicht genau das geben? Die gebürtige Heppenheimerin hat sich mit dieser Art der Wissenschaftskommunikation zum Vorbild einer ganzen Generation junger Menschen entwickelt, die YouTube-Kanäle starten, Bücher schreiben und sich auf Science-Slam-Bühnen stellen. „Wenn mir ein junges Mädchen sagt, sie wolle Chemie studieren, weil ich ihr Vorbild sei, dann bekomme ich kalte Füße vor Freude“, sagt sie.

Als Chemikerin begeisterten sie die Anwendungen immer mehr als die Grundlagen. „Deswegen fühle ich mich Ingenieurinnen und Ingenieuren sehr verbunden. Maschinenbau hätte mir auch sehr viel Spaß gemacht“, sagt sie heute. Ihr interdisziplinärer Forschungsansatz, mit dem sie sich auch der Promotion stellte, war am Ende mehr Biomedizin als Chemie und hatte viele ingenieurwissenschaftliche Berührungspunkte. „Die großen Herausforderungen brauchen fächerübergreifende Lösungen. Und da beginnt die Herausforderung der Kommunikation, wenn etwa Ingenieure mit Chemikern sprechen“, erklärt sie. Zuhause hat sie es da übrigens leichter, denn da stimmt die Chemie weiterhin: Wie ihr Vater sind auch ihr Bruder und ihr Mann Chemiker geworden.

Nostalgisch verklärter Blick

„Ingenieure müssen verstehen, dass ihre Arbeit umsonst ist, wenn die Menschen sie nicht verstehen“, betont sie und reiht in der für sie so typischen, einnehmenden Art die großen Themen aneinander: MRNA-Impfstoffe, autonome Fahrzeuge, Quantencomputer. All das werde kommen, die Forschung sei weit, aber am Ende brauche es nicht nur erfolgreiche Wissenschaften, es brauche public acceptance, also öffentliche Akzeptanz. Dabei hilft es, wenn die Wissenschaft weniger abstrakt daherkommt, allein schon, wenn sie mit Gesichtern und damit mit Menschen daherkommt. „Es ist wichtig, dass die Menschen hinter der Forschung sichtbar werden. Das Bild von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wird noch zu stark von Serien und Filmen wie Big Bang Theory geprägt.“

Dr. Mai Thi Nguyen-Kim arbeitet genau daran. An öffentlicher Akzeptanz für Wissenschaft. Dafür hat sie die eigene Forschung hinter sich gelassen. Ihre Arbeit als Wissenschaftsjournalisten führt sie zwar immer noch in Labore, nun aber aus einer anderen Perspektive. Sie erreicht zwangsläufig nicht mehr die fachliche Tiefe, aber Lesen und Lernen sind immer noch Kernaufgaben im Tagesgeschäft. „Ich empfinde meine Arbeit als großes Glück“, sagt sie. „Wenn ich Forschende zur Kommunikation inspirieren kann, ist das das größte Kompliment für meine Arbeit.“

Und der öffentliche Druck? Die schäbige Kritik, die zu ihrer Arbeit gehört? Dann sind sie da, diese Momente der Sehnsucht nach der Ruhe des Labors. Obwohl? Wenn Mai Thi Nguyen-Kim an ihr Studium und die Promotion zurückdenkt, dann weiß sie, dass ihre Labor-Erinnerungen nostalgisch verklärt sind. Ruhe mag dort geherrscht haben. Aber wie oft hat dann am Wochenende doch die Neugierde über die Freizeit gesiegt? Samstags noch mal ins Labor, um auf die Messreihe zu schauen? Selbstverständlich! Sonntags die Auswertung noch mal kontrollieren? Natürlich! Entspannte Tage im Labor waren dann doch eher die Seltenheit.

Text: Thorsten Karbach