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Das Porträt: Emmanuelle Charpentier

Kreativ wie eine Künstlerin, diszipliniert wie eine Ballerina

Emmanuelle Charpentier hat die Gen-Schere erfunden, eine der bedeutendsten wissenschaftlichen Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit. Dafür erhält die Professorin den Aachener Ingenieurpreis. Professor Emmanuelle Charpentier hätte auch Ballerina oder Musikerin, Architektin oder Künstlerin, Psychologin oder Philosophin werden können. Sie ist eine Frau mit vielen Talenten. Am Ende wurde sie Mikrobiologin und zwar eine, die mit ihrer Forschung die Welt verändern kann. Sie ist eine der Erfinderinnen der Gen-Schere CRISPR-Cas9 (Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats), eine der bahnbrechendsten wissenschaftlichen Entdeckungen der jüngeren Vergangenheit. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf der ganzen Welt arbeiten mit der Technologie, um gezielt Gene und deren Expression in Zellen und Organismen zu verändern. Charpentier treibt sie als Direktorin des Max-Planck-Instituts für Infektionsbiologie und Gründerin der neuen Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene maßgeblich voran. Und dabei ist sie vieles geblieben: kreativ wie eine Künstlerin oder Musikerin, diszipliniert wie die Ballerina und ihre Arbeit immerzu hinterfragend wie die Philosophin oder Psychologin. „Meine Arbeit ist noch lange nicht zu Ende, ich möchte weitere biologische Mechanismen entdecken, die sich im Bioingenieurwesen und der Biomedizin anwenden lassen“, sagt sie.

Schon jetzt hat die Genschere für großes Aufsehen gesorgt. „Ich hätte nicht erwartet, dass CRISPR-Cas9 so schnell einstimmige Anerkennung erfährt“, sagt sie. Nun wird sie für ihre Arbeit mit dem Aachener Ingenieurpreis ausgezeichnet – als Mikrobiologin. Auf den ersten Blick mag das irritieren, Charpentier versteht, dass sie mit ihrem Forschungsfeld in der Regel nicht den Ingenieurwissenschaften zugeordnet wird. Dabei hat ihre Arbeit sehr viel mit der Ingenieurkunst gemein, sie nennt sie selbst genetisches Ingenieurwesen, mit winzigen Werkzeugen. „Wir Mikrobiologen arbeiten im Grunde wie Ingenieure“, erklärt sie. Und Emmanuelle Charpentiers „Werkzeugkasten“ findet - wie gesagt - weltweite Resonanz. 

Eine Brücke zu den Ingenieurwissenschaften

Der Aachener Ingenieurpreis ist eine gemeinschaftliche Auszeichnung der RWTH Aachen und der Stadt Aachen – mit freundlicher Unterstützung des Vereins Deutscher Ingenieure VDI als Preisstifter. Seit 2014 wird jährlich eine Persönlichkeit ausgezeichnet, die mit ihrem Schaffen einen ganz maßgeblichen Beitrag zur positiven Wahrnehmung oder Weiterentwicklung des Ingenieurwesens geleistet hat. Der Preis wird am 7. September 2018 in einem feierlichen Akt im Aachener Rathaus verliehen. Einen Tag später, am 8. September 2018, wird die Preisträgerin beim Graduiertenfest der RWTH Aachen vor rund 5.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Aachener Dressurstadion die Keynote Speech halten.

Mit dem Ingenieurpreis werden Menschen gewürdigt, die mit ihrem Schaffen einen maßgeblichen Beitrag zur positiven Wahrnehmung oder Weiterentwicklung des Ingenieurwesens geleistet haben. Der Verein Deutscher Ingenieure VDI stiftet die Skulptur „Kreuzende Ellipsen“ der Künstlerin Mariana Castillo Deball, die jedem Preisträger verliehen wird. Intention zur Schaffung dieser Auszeichnung war nicht nur, das Ansehen ingenieurwissenschaftlicher Leistungen zu fördern. Den derart Geehrten gelang ebenso, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Impulse zu setzen und jüngere Generationen zu inspirieren. Bisherige Preisträger waren Berthold Leibinger, der aus der kleinen schwäbischen Maschinenfabrik Trumpf einen High-Tech-Konzern der Lasertechnologie machte. Franz F. Pischinger, der als RWTH-Professor die FEV Motorentechnik GmbH als Spin-off in Aachen gründete, der Astronaut Thomas Reiter und der langjährige Direktor des Werkzeugmaschinenlabors WZL der RWTH Aachen, Prof. Manfred Weck. Nun ist es erstmals eine Mikrobiologin, deren Arbeit maßgebliche Auswirkungen auf das Ingenieurwesen in der Biotechnologie hat. Ihre Entdeckung CRISPR-Cas9 hat die Welt der Biotechnologie grundlegend verändert.

„Mit der Entschlüsselung des Genoms und der Methoden, genetische Sequenzen zu kopieren und zu modifizieren, sind nicht nur wesentliche Erkenntnisse im Fach Biologie gewonnen worden, sondern es eröffnet sich auch die Möglichkeit, zur Gestaltung von Leben beizutragen. Damit schlägt die Biotechnologie eine Brücke zu den Ingenieurwissenschaften und entwickelt sich zu einer der zukunftsweisenden Wissenschaftsdisziplinen“, erklärt der Rektor der RWTH Aachen, Professor Ernst Schmachtenberg.  „Frau Professorin Emmanuelle Charpentier steht für die Entwicklung der CRISPR/Cas9-Technologie und damit für eine große Veränderung, deren Ausmaße noch nicht allumfassend zu erkennen sind. Wir ehren sie, weil sie mit ihrer bahnbrechenden Forschung in die Zukunft verweist und weil sie das Tor für die Bio-Ingenieurwissenschaften weit aufgestoßen hat“, führt er weiter aus.

Frankreich, USA, Österreich, Schweden, Deutschland

CRISPR steht für „Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats“ und bezeichnet einen Abschnitt im Erbgut von Bakterien. Cas9 ist eine sogenannte Endonuklease – also ein Enzym, das die DNA schneidet. Bei einer Infektion durch Viren schneiden die Bakterien Stücke aus dem Virenerbgut heraus und bauen es in den CRISPR-Abschnitt ein. Mit der daraus übersetzten CRISPR-RNA sowie einem weiteren RNA-Molekül können die Bakterien bei einer erneuten Attacke das Erbgut der Viren erkennen, es durchtrennen und die Erreger dadurch unschädlich machen. Eine Entdeckung, die voller Chancen steckt.

Als Privatdozentin in Wien kam Emmanuelle Charpentier erstmals mit dem Thema CRISPR in Kontakt. Sie machte es zu ihrem großen Forschungsfeld. 2011 hat sie die grundlegenden Mechanismen von CRISPR-Cas9 verstanden und im Fachmagazin „Nature“ publiziert. Zusammen mit der amerikanischen Strukturbiologin Jennifer Doudna konnte sie den Mechanismus nur ein Jahr später in eine leistungsstarke Technologie weiterentwickeln, die sich in allen lebenden Zellen – von Bakterien über Pflanzen, Tieren bis hin zum Menschen – anwenden lässt. Die Studie erschien 2012 in „Science“. Die Vielseitigkeit der Technologie hat sich schnell verbreitet, wurde von ungezählten Kolleginnen und Kollegen aufgegriffen. „Ich bin wirklich überrascht, mit welcher Geschwindigkeit sich die CRISPR-Forschung entwickelt hat“, sagt Charpentier. In Zahlen ausgedrückt: 2012 gab es 127 wissenschaftliche Veröffentlichungen zum Thema, 2013 waren es schon 277, 2015 fast 500 und ein Jahr später bereits mehr als 1000. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt untersuchen CRISPR-Cas9, wollen es weiterentwickeln. „Das größte Kompliment für meine Arbeit ist die Begeisterung der anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Mehr kann man nicht erwarten“, sagt sie.

Charpentier, geboren am 11. Dezember 1968 in Juvisy-sur-Orge, hat Biologie, Mikrobiologie und Genetik an der Universität Pierre et Marie Curie und dem renommierten Institut Pasteur in Paris studiert, wo sie auch promovierte. Als Postdoktorandin ging sie in die USA, zunächst nach New York, dann nach Memphis, Tennessee. Dort erinnerte sie sich, wie sie in einem Interview mit der Max-Planck-Gesellschaft sagt, an den Satz einer Tante. „Meine Tante, eine Missionarin, hat mir als kleinem Kind einmal prophezeit, ich würde ein abenteuerliches, unstetes Leben führen. Bis zu dem Zeitpunkt konnte ich nichts damit anfangen. Aber seit meiner Ankunft in New York bin ich eigentlich ständig unterwegs. 

2002 kehrte sie als Associate Professorin an der Universität Wien zurück nach Europa. Sie habilitierte in Mikrobiologie, ging nach Schweden – dort gelang ihr der Durchbruch mit ihrer Forschung zu CRISPR-Cas9. Von 2013 bis 2015 war sie Professorin an der Medizinischen Hochschule Hannover und leitete die Abteilung Regulation in Infection Biology am Helmholtz-Zentrum für Infektionsbiologie in Braunschweig. Seit 2015 ist sie Direktorin am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin und Gründungsdirektorin der sich aktuell im Aufbau befindenden Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene. Ihr Institut steht auf besonderem Boden, mitten auf dem historischen Gelände der Charité, wo Robert Koch im späten 19. Jahrhundert am Preußischen Institut für Infektionskrankheiten wirkte. Zudem wurde ihr 2014 eine Alexander von Humboldt-Professur an der Medizinischen Hochschule Hannover verliehen und sie ist Honorarprofessorin an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Briefe voller Hoffnung

Charpentier wünscht sich, dass mit „ihrem“ Werkzeug genetische Defekte und Krankheiten wie Krebs behandelt werden können. Sollte die Anwendungsforschung erfolgreich sein, könnten Mediziner Mutationen möglicherweise korrigieren, Erbkrankheiten heilen oder zumindest Behandlungsmöglichkeiten anbieten. Trotz aller Euphorie weist Charpentier aber auch darauf hin, dass noch ein paar Jahre vergehen können bis CRISPR-Cas9 in der Medizin angewandt wird. Weil es ihr aber eine Herzensangelegenheit ist, hat sie neben ihrer Forschung vor ein paar Jahren auch eine Firma mitbegründet: CRISPR Therapeutics soll die Technologie als Behandlungsmethode zur Marktreife bringen.

Natürlich kennt sie auch die Ängste, wenn es um den Eingriff ins menschliche Genom geht. Sie weiß um die Vorbehalte. Doch erhält sie weit mehr Briefe der Hoffnung, Wünsche von Eltern, dass die Krankheit des Kindes, oder von Kindern, dass das Leiden der Eltern behandelt werden können.

Dennoch ist ihr wichtig, das Thema öffentlich zu diskutieren und in einem Interview mit der Deutschen Presseagentur dpa sagte sie jüngst, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssten bereit sein, die Verantwortung für die Risiken bei Genmodifizierungen zu übernehmen. „Wir brauchen eine verstärkte Debatte und internationale Regularien zu den potenziellen Risiken von CRISPR-Cas9 als Gen-Editing-Technik.“ Im Gespräch mit der Max-Planck-Gesellschaft sagte sie an anderer Stelle: „CRISPR-Cas9 kann der Menschheit ungeheuer viel Gutes bringen, aber natürlich müssen wir verantwortungsbewusst damit umgehen. Eingriffe in die menschliche Keimbahn beispielsweise, die das Erbgut künftiger Generationen beeinflussen, lehnen die meisten meiner Kollegen und auch ich selbst ab.“

Zahlreiche Preise hat sie für ihre bahnbrechende Arbeit schon erhalten, darunter den amerikanischen Breakthrough Prize in Life Sciences (2015), den Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis und die Otto-Hahn-Medaille (2016), den renommierten Japan-Preis (2017) und jüngst den norwegischen Kavli-Preis in Nanowissenschaften. Die Auszeichnungen belegen, dass Charpentiers Entdeckung zu den großen Entwicklungen der Wissenschaft zählt – nicht nur in der Mikrobiologie. Einen Preis für Ingenieure hatte sie bislang aber noch nicht angetragen bekommen. Diese Auszeichnung sei etwas Besonderes: „Wir leben in einer Welt voller Technologie. In dieser Welt brauchen wir Ingenieure und Wissenschaftler, die Hand in Hand arbeiten. Es ist wichtig, dass diese Wertschätzung erfahren. Ich fühle mich sehr geehrt, dass ich als Wissenschaftlerin nun diese Auszeichnung erhalte.“

Text: Thorsten Karbach