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Das Porträt: „Maschinenbau, der Leben rettet"

Dr. Thorsten Sieß hat die kleinste Herzpumpe der Welt entwickelt. Mittlerweile ist er Chief Technology Officer von Abiomed und entwickelt eine Technologie weiter, die jährlich bei rund 50.000 Patientinnen und Patienten nach einem Herzinfarkt eingesetzt wird.

Wenn Dr. Thorsten Sieß aus dem Fenster seines Büros guckt, dann kann er direkt in die Zukunft schauen.
Die Baustelle mit den Kränen und Baggern steht für den nächsten Schritt seines Unternehmens. Abiomed
wächst am Standort Aachen, es entstehen weitere Reinräume für die Entwicklung und Fertigung der
kleinsten Herzpumpe der Welt. Sieß ist Chief Technology Officer des Unternehmens, welches seit 2022
zum US-amerikanischen Weltkonzern Johnson & Johnson gehört und die Impella-Herzpumpe baut, vertreibt
und weiterentwickelt. Für 350.000 Patientinnen und Patienten weltweit – die Jüngste kaum drei Jahre
alt – bedeutete die Herzpumpe ein neues Kapitel im Leben. Dr. Thorsten Sieß hat sie zusammen mit einem
hochinnovativen Team an Ingenieurinnen und Ingenieuren sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
entwickelt, und das ist seine Geschichte.

Sie beginnt mit einer pragmatischen Entscheidung. Nach dem Wehrdienst schrieb er sich an der RWTH
Aachen ein, denn ein Freund ging nach Aachen, um dort Elektrotechnik zu studieren. Für Sieß war es
naheliegend, einfach mitzugehen, und er entschied sich für Maschinenbau. Während des Studiums wurde
aus dem Pragmaten der Spinner. Das sagt er selbst, wenn er an diese Zeit zurückdenkt. Sieß startete mit
Luft- und Raumfahrt, konnte sich aber weder dafür noch für Automotive restlos begeistern lassen, Medizintechnik
im heutigen Sinne zählte noch nicht zum Portfolio der Hochschule, es gab aber eine Vorlesung
„Ingenieurwesen in der Medizin“ und Professor Helmut Reul, sein späterer Doktorvater, berichtete von
ersten Versuchen mit Herzpumpen in den USA. Alles noch hochproblematisch. Dann hörte Sieß von Professor
Günther Rau, dass die Helmholtz-Gesellschaft in Aachen ebenfalls an diesem Thema forschen
wolle – und Sieß hatte seine Bestimmung gefunden, er promovierte zu katheterbasierten minimalinvasiven
Herzpumpen, entwickelte ein eigenes Modell und gründete in Aachen seine eigene Firma mit Gleichgesinnten
und internationalen strategischen Partnern.

Als Anerkennung seines beeindruckenden Weges aus dem Studium ins Gründertum, seines Durchhaltevermögens
in schwierigen Zeiten und des Erfolgs, der mittlerweile weltweit eingesetzten Herzpumpe wird
Dr. Thorsten Sieß am Samstag, 6. September 2025, in einem festlichen Akt in Anwesenheit von Ina Brandes,
Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, von der RWTH und der Stadt
Aachen im Krönungssaal des Aachener Rathauses mit dem Aachener Ingenieurpreis ausgezeichnet. Zuvor
hält er vor den Absolventinnen und Absolventen der RWTH eine Keynote auf dem großen Graduiertenfest
der Hochschule im Dressurstadion in der Aachener Soers. „Dr. Thorsten Sieß steht für einen unermüdlichen unternehmerischen und ingenieurwissenschaftlichen Einsatz, mit dem er seine Idee – Pumpe und Motor gemeinsam in einem Herzkatheter unterzubringen – umgesetzt hat. Mit seinem Einsatz hat er
eindeutig einen maßgeblichen Beitrag zur positiven Wahrnehmung und Weiterentwicklung des Ingenieurwesens
geleistet.“, begründet Professor Ulrich Rüdiger, Rektor der RWTH Aachen, die Entscheidung.

Doch der Reihe nach: Impella CardioTechnik AG hieß das Unternehmen, welches Sieß 1997 in Aachen
mitgegründet hatte. Am Ende waren es das Netzwerk in der Aachener Region und die engen Verbindungen
ins Medizinische Zentrum, ins Klinikum und zur Helmholtz-Gesellschaft und der UZ Leuven, die Sieß
und seine Mitstreiter in Aachen hielt. Aufgrund eines strategischen Partners aus den USA stand auch eine
Gründung im Silicon Valley zur Debatte. Es wurde dann aber Aachen und so belegt diese Geschichte
auch, dass erfolgreiche Tech-Gründungen auch in einer 250.000-Menschen-Stadt in Deutschland möglich
sind.

In Leuven liefen präklinische Studien, im Aachener Universitätsklinikum fand er Räume – und die hielten
ihn fit, denn das Helmholtz-Institut war übers ganze Gebäude verteilt. Im Erweiterungsbau des Medizinischen
Zentrums bezog das junge Unternehmen dann die ersten Reinräume. Allein die Finanzierung war
und blieb schwierig. „Hier sind wir in Deutschland nicht gut aufgestellt, hier fehlt es an Geduld, denn bis
zur Profitabilität einer Entwicklung vergehen in der Medizintechnik schnell mal zehn Jahre“, sagt er. Der
ersten Euphorie folgte die Ernüchterung und mit ihr eine harte Zeit. Auch das gehört zu seiner Geschichte.
Als die Dot-Com-Blase platzte, stand die Impella CardioTechnik AG mit ihrer vielversprechenden Herzpumpe
ohne Anschlussfinanzierung da. Das Produkt war gut, aber nicht auf Anhieb erfolgreich, das junge
Unternehmen musste durch die Tiefen der Insolvenz. Ein Rückschlag, der andere zur Aufgabe zwingen
würde. Sieß nicht. „Wenn Du siegen willst, musst Du auch verlieren lernen“, sagt er. Also schickte er sein
Team zwei Monate nach Hause und übernahm alle Anfragen bis hin zum Kundensupport in Personalunion
mit weiteren vier Kollegen, die den Betrieb während der Insolvenz aufrechterhielten.

Erfolgreicher Neustart

Anfang 2003 als Impella CardioSystems dann der Neustart, 2005 wurde Impella von Abiomed gekauft,
einem Unternehmen, welches 1981 mit dem Ziel gegründet worden war, das erste Kunstherz zu entwickeln.
Aachen wird mit der Übernahme durch Abiomed zur europäischen Zentrale des Unternehmens.
Sieß ist zunächst Manager für Forschung und Entwicklung, dann wird er Chief Technology Officer der
Abiomed und ist Vizepräsident des Unternehmens. Die ersten Impella-Herzpumpen werden Patientinnen
und Patienten 1999 eingesetzt, 2014 wird die Marke von 20.000 behandelten Patientinnen und Patienten
überschritten, 2018 sind es schon 100.000. 2021 bereits 200.000, mittlerweile mehr als 350.000 und jährlich
kommen rund 50.000 Patientinnen und Patienten hinzu. Auch, weil sich neue Möglichkeiten eröffneten:
Denn 2022 folgte der ganz große Schritt: Der US-Konzern Johnson & Johnson kaufte Abiomed, womit
sich weltweit weitere Märkte eröffneten. Aus einem interdisziplinären Maschinenbau-Start-up ist eine forschende
und weltweit operierende Firma geworden. Allein in Aachen gibt es 70 Researchingenieure und -
ingenieurinnen, weltweit sind es 250. Gefertigt wird zur Hälfte in Aachen, zur Hälfte in der Nähe von Boston. Geforscht wird an leistungsstärkeren Pumpsystemen, intelligenten und in die klinische Therapie eingebundenen
Systemen, auch an speziellen Babypumpen und Vielem mehr. Impella ist und wird dabei
immer eine Übergangslösung bleiben, soll einem kranken Herzen die Chance geben, sich natürlich zu
erholen. „Es gibt keine bessere Lösung als die biologische – und das sage ich als Maschinenbauer“, betont
Sieß.

Die Impella-Herzpumpe ist in 1100 medizinischen Zentren in 40 Ländern erhältlich. Die Zahlen beeindrucken.
Aber noch beeindruckender bleiben für Dr. Thorsten Sieß die Geschichten hinter den Patientinnen
und Patienten. Wenn er eines der Videos der Menschen sehe, die mit einer Herzpumpe behandelt wurden,
dann sei das immer noch sehr emotional. Es gehe am Ende immer ums Sein oder Nicht -Sein, um Leben
und Tod. Schließlich ist der Herzinfarkt in der westlichen Welt immer noch Todesursache Nummer eins,
jede Minute zählt und lange musste akzeptiert werden, dass sich ein durch Infarkt und den sogenannten
kardiogenen Schock geschädigtes Herz nicht mehr regenerieren kann.

Die Impella-Herzpumpe interveniert hier erfolgreich. Und so funktioniert das bleistiftgroße ventrikuläre
Hilfsgerät (VAD) – wie es fachlich korrekt formuliert heißt: Ein Miniaturpropeller in einem Miniaturgehäuse
(also ein sogenannter Impeller aus dem der Name Impella dann abgeleitet wurde) aus biokompatiblem
Kunststoff wird im Herzen eingesetzt und fördert dort bei 46.000 Umdrehungen pro Minute Blut bis hin zum
vollständigen Ersatz des Herzminutenvolumens. Der Eingriff erfolgt minimalinvasiv, das Sternum (Brustbein)
muss keineswegs geöffnet werden, um das Herz zu behandeln. Stattdessen wird die Pumpe mittels
einer Punktion eines peripheren Blutgefäßes in wenigen Minuten in das Herz eingeführt. Je nach Größe
des Gerätes können so vier bis 5,5 Liter Blut aus dem Herzen in die Hauptschlagader gepumpt werden.
Das schont und entlastet die Herzmuskeln, die eigentlich diese Aufgabe ausfüllen und nun zur lebensverlängernden
Ruhe kommen. Das eigentliche Herz kann sich also eine Auszeit nehmen, eine Erholungspause,
die es möglich macht, dass sich die Herzmuskeln wieder regenerieren und nicht absterben und durch
Narbengewebe ersetzt werden müssen. „Die Pumpe sorgt für eine Herzerholung, nicht für einen Herzersatz“,
erläutert Sieß. „Ziel ist es, die Pumpe wieder zu entfernen, sobald sich das Herz erholt hat.“

Mehr Geduld gefordert

Studien wie die 2024 veröffentlichte DanGer Shock dokumentieren den Erfolg des Ansatzes: Zehn Jahre
lang wurde die Effektivität von Impella bei einem Herzinfarkt mit kardiologischem Schock untersucht. Das
Resultat ist, dass die Sterblichkeit nach 180 Tagen um 12,7 Prozent reduziert werden konnte. „Jeder einzelne
Mensch zählt und treibt uns an“, sagt Sieß und erzählt, dass Begegnungen zwischen seinem Team,
welches die Pumpen fertigt und den behandelten Patientinnen und Patienten gefördert werden. „Diese
Treffen sind für uns alle sehr emotional und motivieren uns immer wieder aufs Neue sicherzustellen, dass
jede Pumpe perfekt ist und die nächste Generation noch besser wird.“

Die Arbeit geht jedenfalls weiter, auch wenn die Anerkennung seiner Arbeit durch die Verleihung des
Aachener Ingenieurpreises Anlass gibt, zurückzublicken. Sieß blickt lieber nach vorne – aus dem Fenster seines Büros auf die Baustelle der Europazentrale von Abiomed in Aachen, wo mittlerweile mehr als 1.000
Menschen arbeiten und auf die, die ähnliche Ideen haben: die Spinner im besten Sinne. „Wir brauchen
mehr Geduld und finanzielle Unterstützung in der Medizintechnik. Entwicklungen haben hier auch mal 20
Jahre Vorlauf. Dennoch müssen sie verfolgt werden können. Das braucht Durchhaltevermögen.“

Text: Thorsten Karbach